Wenn es stimmt, dass Not erfinderisch macht, so gilt dieser Satz bedingungslos für die gesellschaftliche Not nach dem Ersten Weltkrieg. Die Menschen lebten in desolaten Mietskasernen ohne ausreichend Licht und Luft. Typhus und Tuberkulose breiteten sich aus. Der Berliner Zeichner Heinrich Zille notierte dazu:
„Mit einer Wohnung kann man einen Menschen genauso töten wie mit einer Axt“
Entrümpeltes Studium
Unter den katastrophalen Verhältnissen der Nachkriegszeit wuchs Neues heran. Das Bauhaus gründete sich unter der Leitung von Walter Gropius, mit dem Ziel, Kunst, Handwerk und Architektur zu neuer Geltung zu verhelfen. An der Technischen Hochschule Stuttgart formierte sich schon 1918 die traditionalistisch ausgerichtete Stuttgarter Schule. Sie machte es sich zur Aufgabe, das Architekturstudium zu entrümpeln. Nicht mehr realitätsfremde Konstruktionszeichnungen sondern Praxiserfahrung war jetzt das, was zählte. Mit dieser Wende gewann die Stuttgarter Schule deutschlandweit an Einfluss. Zu ihren prominentesten Vertretern zählten Paul Bonatz und Paul Schmitthenner. Regionale Beispiele ihres Wirkens sind der Stuttgarter Hauptbahnhof von Bonatz und die 1933 von Paul Schmitthenner entworfene Kochenhofsiedlung.
An der Technischen Hochschule formierte sich die traditionalistisch ausgerichtete Stuttgarter Schule. Hier das Gebäude vor seiner Zerstörung durch einen Luftangriff im Jahr 1944.
Der junge Baumeister
Schmitthenner war gerade mal 30 Jahre alt, als er vom Reichsamt des Inneren den Planungsauftrag für den Bau der Genossenschaftssiedlung Staaken bei Berlin erhielt. Zwischen 1914 und 1917 baute er dort rund 800 Wohneinheiten auf 35 Hektar.
Seine Vorstellungen von der Schnödenecksiedlung, mit deren Planung er 1919 begann, beschrieb er wie folgt:
„Die Siedlung soll insgesamt so strukturiert sein, dass eine gesunde Mischung verschieden großer Wohnungen entsteht. Wenige, dafür aber gute Formen verbilligen den Entwurf und lassen äußerlich sichtbar den Genossenschaftsgedanken erkennen.“
Die „gebaute Form“
Als Architekt setzte Schmitthenner auf Handwerk, Tradition und Region, als Baumaterial verwendete er vorwiegend Naturstein, Backstein und Holz. Das Bauen sollte aus Elementarem heraus sich entwickeln.
„Die ursprünglichen Dinge sind wesentlich, denn nur aus Ursprung entsteht wirkliches, eigenes Leben“
Kern seiner Philosophie war, wie er es später formulierte, die „gebaute Form“. Typisch sind die Sattel- und Walmdachformen. Zu jedem Gebäude gehörte ein Garten, um die Selbstversorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Durch wechselnde Straßenbreiten, Krümmungen und Platzbildungen gelang es Schmitthenner, mit nur fünf Grundrisstypen eine abwechslungsreiche Raumgestaltung zu schaffen, die auch seine späteren Siedlungen auszeichnete.
Ein Schnellbausystem
Trotz seines traditionalistischen Ansatzes erkannte Schmitthenner sehr wohl den mit der Industrialisierung aufkommenden Anspruch auf Massenfertigung. 1926 begann er mit der Entwicklung eines Schnellbausystems, dem sogenannten „Fafa“ (Fabriziertes Fachwerk). Dessen Vorteil war, dass – vom Außenputz einmal abgesehen – „trocken“ gebaut wurde und die Bauzeit sich dadurch erheblich verkürzte. Die Kosten lagen im Vergleich zum konventionellen Bauen um 24 Prozent niedriger. Trotzdem konnte er sein Schnellbausystem nicht mehr in größerem Maßstab zum Einsatz bringen, denn die Weltwirtschaftskrise hatte Deutschland bereits im Griff.
Das Ende der Stuttgarter Schule
1933 trat Schmitthenner in die NSDAP ein, die er allerdings später als entschiedenen Gegner der nationalsozialistischen Staatsarchitektur wieder verließ. Zunächst jedoch hatte er gehofft, unter Adolf Hitler zum führenden Architekten der Nation aufsteigen zu können.
Schon während des Zweiten Weltkrieges war das Ende der Stuttgarter Schule vorgezeichnet. 1946 schrieb Bonatz dann an Schmitthenner:
„Unser Laden ist endgültig zertrümmert.“
Das Hauptgebäude der technischen Hochschule, das auch den Lehrstuhl für Architektur beherbergte, war 1944 bei einem Bombenangriff in Flammen aufgegangen. Die wichtigsten Professoren waren gegangen oder hatten gehen müssen. Paul Bonatz ließ sich 1943 für einen Lehrauftrag in der Türkei freistellen. Schmitthenner wurde gezwungen, wegen seiner anfänglich nationalsozialistischen Gesinnung die Hochschule zu verlassen.