Wilhelm Hörmann Mit Blick über den Tellerrand

Wilhelm Hörmann war gerade 27 Jahre alt, als die Sindelfinger ihn 1895 zum Schultheiß wählten. Schon während des Wahlkampfs wurde er wegen seines jugendlichen Alters kritisch beäugt. Gelegentlich erhielt er auch den wohlmeinenden Rat, doch erst einmal in die Welt hinauszugehen, um Erfahrungen zu sammeln.

Ein genauer Beobachter

Zugute kam Hörmann seine Offenheit für alles Neue. Zeitgenossen berichten, dass er sehr tatkräftig und entschlossen handelte, wenn er von einer Sache überzeugt war. Er beobachtete die Entwicklung in anderen Städten und Gemeinden und zog seine Lehren für Sindelfingen daraus. Damit brachte er genau die Voraussetzungen mit, um die Stadt in wirtschaftlich unsicheren Zeiten in das Industriezeitalter zu führen.

Auf Hörmanns Initiative ging die Ansiedlung der Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG) im Jahr 1915 zurück. Doch schon zuvor hatte er die Weichen für eine neue Zeit gestellt. Zum Beispiel unterstützte er die Ansiedlung der Maschinenfabrik Kabisch, einer Vorläuferfirma der IBM. Während seiner Amtszeit erhielt Sindelfingen einen Bahnhof und das Gaswerk wurde eröffnet.

Heftige Auseinandersetzungen

Mit seiner Innovationfreudigkeit stieß Hörmann bei den Sindelfingern nicht nur auf Sympathie. Heftiger Widerstand schlug ihm beim Bau der Wasserleitung entgegen. Schon 1897 hatte er sie in Planung gegeben, doch erst gute 30 Jahre später konnte sie nach heftigen Auseinandersetzungen eingeweiht werden. Fast wie eine Rechtfertigung klang es, als er rückblickend einmal sagte:

 „Es ist nicht so, wie ein Bürger einmal gemeint hatte, ich betreibe bloß deshalb die Wasserleitung, dass einst an meinem Grab rühmend davon gesprochen wird.“

 Mit Skepsis und missbilligend verfolgten viele „Altsindelfinger“ auch den Bau der Schnödenecksiedlung. In einem Leserbrief vom 12.11.1920 wütete ein Sindelfinger über den vom Gemeinderat bewilligten außerplanmäßigen Baukostenzuschuss:

„. . . .Steuerzahler, besinnt Euch! ehe weiter gebaut wird. Heraus aus der Versenkung. Oder wollt ihr für Phrasenmäuler ewig Versuchskaninchen bleiben und Euch am Nasenband gängeln lassen bis zum endlichen Bankrott. – Viele habens nachgerade satt!“ 

 Hörmanns nahm dazu ein paar Tage später Stellung im Gemeinderat:

„. . . .Wenn also die Gemeinde Sindelfingen sich künftig weigern sollte Zuschüsse zu gewähren, so muss eben das Bauen unterbleiben. Wenn der Gemeinderat den sog. Ueber-Ueberteuerungszuschuss  nicht verwilligt hätte, so wären 417 000 Mark Reichs- und Staatszuschüsse verloren gewesen. Ob das in unserem Interesse gelegen hätte, überlasse ich der Beurteilung des einsichtigeren Teils der Einwohnerschaft. Es bleibt dann nicht bloß die Wohnungsnot in ihrer allerdings nicht allen Menschen bekannten Größe und Wucht mit ihren Gefahren bestehen, sondern es wird auch das ganze Bauhandwerk ruhen. . . .und es können dann Baumeister, Bauunternehmer und Bauhandwerker stempeln gehen und Erwerbslosenfürsorge beantragen. . . .!“

Persönliche Rückschläge

Konflikte dieser Art begleiteten die Amtszeit von Wilhelm Hörmann und auch persönlich musste er enorme Rückschläge einstecken. Fünf seiner zehn Kinder starben bereits in frühen Jahren. Sein Sohn Otto fiel als Soldat im Ersten Weltkrieg.

Als er 1932 zurücktrat, bezeichnete er sich selbst als verbrauchten 63-jährigen Mann. In seiner Abschiedsrede sagte er:

„Der Chronist legt seine Feder nieder. Ich habe während meiner Amtszeit viel Freud, aber namentlich in den letzten Jahren auch viel Leid und Widerwärtigkeiten erlebt. Ich schließe mit den Schillerworten:

‚In den Ozeanen schifft mit 1 000 Masten der Jüngling,

Still, auf gerettetem Boot treibt in den Hafen der Greis.“‘

Wilhelm Hörmann starb 1944.
Auszüge aus „Staunen, nichts als Staunen“
Gemeinderatssitzung 18.11.1920

Monika Etspüler

Paul Schmitthenner Die Stuttgarter Schule

Wenn es stimmt, dass Not erfinderisch macht, so gilt dieser Satz bedingungslos für die gesellschaftliche Not nach dem Ersten Weltkrieg. Die Menschen lebten in desolaten Mietskasernen ohne ausreichend Licht und Luft. Typhus und Tuberkulose breiteten sich aus. Der Berliner Zeichner Heinrich Zille notierte dazu:

„Mit einer Wohnung kann man einen Menschen genauso töten wie mit einer Axt“

Entrümpeltes Studium

Unter den katastrophalen Verhältnissen der Nachkriegszeit wuchs Neues heran. Das Bauhaus gründete sich unter der Leitung von Walter Gropius, mit dem Ziel, Kunst, Handwerk und Architektur zu neuer Geltung zu verhelfen. An der Technischen Hochschule Stuttgart formierte sich schon 1918 die traditionalistisch ausgerichtete Stuttgarter Schule.  Sie machte es sich zur Aufgabe, das Architekturstudium zu entrümpeln. Nicht mehr realitätsfremde Konstruktionszeichnungen sondern Praxiserfahrung war jetzt das, was zählte. Mit dieser Wende gewann die Stuttgarter Schule deutschlandweit an Einfluss.  Zu ihren prominentesten Vertretern zählten Paul Bonatz und Paul Schmitthenner.  Regionale Beispiele ihres Wirkens sind der Stuttgarter Hauptbahnhof von Bonatz und die 1933 von Paul Schmitthenner entworfene Kochenhofsiedlung.

Der junge Baumeister

Schmitthenner war gerade mal 30 Jahre alt, als er vom Reichsamt des Inneren den Planungsauftrag für den Bau der Genossenschaftssiedlung Staaken bei Berlin erhielt. Zwischen 1914 und 1917 baute er dort rund 800 Wohneinheiten auf 35 Hektar.

Seine Vorstellungen von der Schnödenecksiedlung, mit deren Planung er 1919 begann, beschrieb er wie folgt:

„Die Siedlung soll insgesamt so strukturiert sein, dass eine gesunde Mischung verschieden großer Wohnungen entsteht. Wenige, dafür aber gute Formen verbilligen den Entwurf und lassen äußerlich sichtbar den Genossenschaftsgedanken erkennen.“

Die „gebaute Form“

Als Architekt setzte Schmitthenner auf Handwerk, Tradition und Region, als Baumaterial verwendete er vorwiegend Naturstein, Backstein und Holz. Das Bauen sollte aus Elementarem heraus sich entwickeln.

„Die ursprünglichen Dinge sind wesentlich, denn nur aus Ursprung entsteht wirkliches, eigenes Leben“

Kern seiner Philosophie war, wie er es später formulierte, die „gebaute Form“. Typisch sind die Sattel- und Walmdachformen. Zu jedem Gebäude gehörte ein Garten, um die Selbstversorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Durch wechselnde Straßenbreiten, Krümmungen und Platzbildungen gelang es Schmitthenner, mit nur fünf Grundrisstypen eine abwechslungsreiche Raumgestaltung zu schaffen, die auch seine späteren Siedlungen auszeichnete.

Ein Schnellbausystem

Trotz seines traditionalistischen Ansatzes erkannte Schmitthenner sehr wohl den mit der Industrialisierung aufkommenden Anspruch auf Massenfertigung. 1926 begann er mit der Entwicklung eines Schnellbausystems, dem sogenannten „Fafa“ (Fabriziertes Fachwerk).  Dessen Vorteil war, dass – vom Außenputz einmal abgesehen – „trocken“ gebaut wurde  und die Bauzeit sich dadurch erheblich verkürzte. Die Kosten lagen im Vergleich zum konventionellen Bauen um 24 Prozent niedriger. Trotzdem konnte er sein Schnellbausystem nicht mehr in größerem Maßstab zum Einsatz bringen, denn die Weltwirtschaftskrise hatte Deutschland bereits im Griff.

Das Ende der Stuttgarter Schule

1933 trat Schmitthenner in die NSDAP ein, die er allerdings später als entschiedenen Gegner der nationalsozialistischen Staatsarchitektur wieder verließ. Zunächst jedoch hatte er gehofft, unter Adolf Hitler zum führenden Architekten der Nation aufsteigen zu können.

Schon während des Zweiten Weltkrieges war das Ende der Stuttgarter Schule vorgezeichnet. 1946 schrieb Bonatz dann an Schmitthenner:

 „Unser Laden ist endgültig zertrümmert.“   

Das Hauptgebäude der technischen Hochschule, das auch den Lehrstuhl für Architektur beherbergte, war 1944 bei einem Bombenangriff in Flammen aufgegangen. Die wichtigsten Professoren waren gegangen oder hatten gehen müssen. Paul Bonatz ließ sich 1943 für einen Lehrauftrag in der Türkei freistellen. Schmitthenner wurde gezwungen, wegen seiner anfänglich nationalsozialistischen Gesinnung die Hochschule zu verlassen.   

Monika Etspüler

Weißenhof contra Kochenhof Architekturkrieg in Stuttgart

„Der Kern unserer alten Städte mit ihren Domen und Münstern muss zerschlagen und durch Wolkenkratzer ersetzt werden“

Die Aussage stammt von dem Architekten Le Corbusier und lässt erahnen, mit welcher Radikalität zu Beginn des 20. Jahrhunderts neue städtebauliche Ideen verfolgt wurden. Besonders das Neue Bauen, zu dessen Vertretern Le Corbusier zählte, sorgte für Schlagzeilen. Aus ihrer Sicht war Architektur etwas, das sich dem Maschinenzeitalter anzupassen hatte. Le Corbusiers fasste diese Entwicklung in dem einen Satz zusammen:

 „Das Haus ist eine Maschine.“

Mit dem Neuen Bauen, das die Grundlage der Bauhaus-Schule bildete, änderten sich auch die Bautechniken. Neue Materialien wie Glas und Stahl kamen zum Einsatz. Flachdächer und kubische Bauten waren typische Merkmale dieser neuen Stilrichtung. 

Gegensätze tun sich auf

Den Brückenkopf dieser Avantgarde bildete 1927 die in Stuttgart erbaute Weißenhofsiedlung, deren künstlerische Gesamtleitung Ludwig Mies van der Rohe, der spätere Bauhausdirektor, innehatte.  17 europäische Architekten, darunter auch Le Corbusier, errichteten 21 Häuser mit insgesamt 60 Wohnungen in dieser Mustersiedlung. Zur gleichen Zeit war die Stadt aber auch Hochburg der Stuttgarter Architektenschule, zu deren bekanntesten Vertretern Paul Bonatz und Paul Schmitthenner gehörten.  Und hier, in dieser schwäbischen Metropole, stießen die Protagonisten des Traditionalismus und des Neuen Bauens auf engstem Raum zusammen.

Ein Konflikt eskaliert

Gemeinsam war beiden Richtungen die Suche nach neuen Formen und der Wille günstigen und guten Wohnraum zu schaffen. Doch während für Schmitthenner das Bauen ein evolutionärer Prozess war, verstanden die Verfechter des Neuen Bauens unter Erneuerung der Architektur den Bruch mit der Vergangenheit. Spätestens als das Bauhaus 1923 den Schwenk vom Handwerk als Basis künstlerischen Schaffens hin zu mehr Technik vollzog, verweigerte Schmitthenner die Gefolgschaft. Die anfängliche Diskussionsbereitschaft eskalierte in den Folgejahren zu einem Streit zwischen den Vertretern des Neuen Bauens und der Stuttgarter Schule.

Die Provokation

 Für Schmitthenner war das Projekt „Weißenhofsiedlung“ eine Provokation. Er entwickelte eine geradezu militante Gegnerschaft gegenüber dem Neuen Bauen und setzte alles daran, ein Gegenmodell dafür zu entwickeln.

 Die ersten Planungen dafür, die aus dem Jahr 1927/28 stammten, konnten aufgrund der wirtschaftlichen Situation nicht realisiert werden. Zu sehr hatte die Wirtschaftskrise Deutschland bereits im Griff. Die Nationalsozialisten waren es schließlich, die Schmitthenners Vorhaben dann unterstützten. Im Rahmen der Bauausstellung „Deutsches Holz für Hausbau und Wohnung“ entstand 1933 die Kochenhof Siedlung mit insgesamt 25 Einzelhäusern. Der größte Teil wurde bei Luftangriffen im Zweiten Weltkrieg zerstört. Das Kriegsende bedeutete auch das  endgültige  „Aus“ für die traditionelle Stuttgarter Schule. Den Zerfall kommentierte die Zeitschrift „Bauwelt“ 1957 mit den Worten:

„Den Krieg, der 1927 in Stuttgart begann, hat Corbusier gewonnen und nicht Schmitthenner.“ 

Monika Etspüler